«Selbstlose Einheit – Wie man den Verstand in die Stille bringt»

„Sich kennen, heisst sich vergessen;
sich vergessen, bedeutet Eins zu sein mit allem.“
Dōgen Zenji, jap. Mönch des 13. Jahrhundert

In einer sehr Ich-bezogenen Gesellschaft haben wir keinen einfachen Zugang, geschweige denn Wertschätzung, für Selbstlosigkeit. Wenn ich mein Selbst vergesse, tue ich die Dinge einfach um ihrer selbst willen, nicht um irgendetwas damit zu erreichen. Diese Art der Selbstvergessenheit nennen wir heute „Flow“. Wir kennen diesen Zustand aus unserer Kindheit, wenn wir völlig versunken im Spiel waren. Wenn man selbstvergessen ist, fliessen Dinge einfach und man vergisst die Zeit. Dann handelt, spricht oder entscheidet etwas anderes als das kleines Ich, das ständig von Sorgen, Ängsten, Wünschen oder Hoffnungen geprägt ist.

Mein Ich hatte es irgendwann satt, sich ständig mit sich selbst zu beschäftigen. Es hatte genug von sich. Es machte keinen Sinn mehr, mir ständig das Gehirn zu zermartern. Der Moment war zu wertvoll. Warum sollte ich die kostbare Dimension des Augenblicks mit sinnlosen Gedanken ruinieren. Mein Ich war immer süchtig und fasziniert gewesen vom Denken oder war damit beschäftigt, Kommentare über alles Mögliche abzugeben. Dieser innere Dialog war weder originell noch konstruktiv. Mit der Zeit wuchs regelrecht eine Aversion dagegen, mich noch länger mit den Kommentaren des kleinen Ichs herumschlagen. Ich empfand diesen Teil immer stärker als einen unangenehmen Begleiter in meinem Kopf.

Deshalb begann ich „Gedanken-Fasten“ zu praktizieren. Ich verzichte konsequent darauf, sinnlose Gedanken weiterzudenken. Ich ließ mich nicht länger von meinem Sprachzentrum, das sich selbständig gemacht hatte, zutexten. Als Folge verschiedener Meditationstechniken, die ich praktizierte hatte, zog ich einen Schlussstrich unter das Kapitel „unaufgeforderte Gedanken weiterdenken“. Das führte u.a. dazu, dass mein „kleines Ich“ nicht mehr über mich oder und andere herziehen durfte. Das eliminierte schon einen Grossteil des inneren Dialogs. Nicht, dass die Gedanken nicht mehr auftauchten, aber ich konnte sie früh genug erkennen und entscheiden, sie „nicht zu Ende denken“ zu müssen. Mit wachsender Unterscheidungsfähigkeit in Bezug auf die Qualität meiner Gedanken, konnte ich sie dem Feuer meiner Achtsamkeit übergeben. Diese Art der Wachsamkeit half mir, unsinnige Gedanken nicht weiter verfolgen zu müssen. Beim Gedanken-Fasten geht dem kleinen Ich irgendwann der Treibstoff (Aufmerksamkeit) aus und dann gibt es auf.

Ein einfache Technik des Gedanken-Fastens, die sich immer Alltag leicht anwenden lässt, ist „die Luft anzuhalten“ bis sich der Gedanke` buchstäblich in Luft aufgelöst hat. Das geht schneller als man denkt. Sobald man auch nur für einen kurzen Moment die Luft anhält, bekommt der Gedanke keine Energie mehr und bricht ab. Kein Atem, kein Gedanke. Kein Gedanke, kein kleines Ich mehr, das ständig über irgendwas nachdenkt. Wenn immer ich die Luft anhalte, ist niemand mehr da, der mich zutextet. Der Teil in einem, der ständig seinen „Senf“ dazu gibt, muss irgendwann die Klappe halten.

Wenn man das einige Zeit praktiziert, stellt sich automatisch ein Gefühl von Einheit ein. Zunächst entsteht ein Gefühl der Einheit mit sich selbst und dann eine Einheit mit den 10`000 Dingen um einen herum, wie der jap. Zen-Meister Dogen es vor 800 Jahren beschrieben hat: „Sich kennen, heisst sich vergessen und sich vergessen führt zur Einheit mit allen Dingen“. Er erkannte, dass Menschen sich permanent im inneren Labyrinth ihrer Gedanken verlieren und dass, wenn sie von sich absehen, Selbstlosigkeit erleben. Kein Denken, kein Ich; kein Ich, kein Problem. Wenn man aufhört automatisch-auftauchenden Gedanken zu folgen, hat man auch kein Problem mehr, sondern einfach eine Lebenssituation, die es vielleicht zu bewältigen gilt. Sowohl der griechische Philosoph Epiktet, als auch Buddha kamen vor 2500 Jahren zur gleichen Erkenntnis: „Menschen leiden nicht an dem, was passiert, sondern primär an dem, was sie mit ihren Gedanken hinzufügen.“ Den automatisch, d.h. unbewusst auftauchenden Gedanken zu folgen und in ihnen verstrickt zu sein, ist eine der Hauptursachen des Leidens.

Ich hatte vor kurzem die Gelegenheit mich in das Lebensgefühl bzw. das Bewusstsein einer Gams „einzuloggen“. Es war sehr still. Sie sass in völliger Ruhe etwa 10 Meter vor mir unter einem Baum und „meditierte“. Es fühlte sich an, als sei das ihr ganz normaler Zustand. Die Ruhe in meinem Kopf wurde immer tiefer, je mehr ich in ein Gefühl von Einheit mit ihr eintauchte. Ich wäre noch gerne im Wald bei ihr geblieben, aber es wurde langsam dunkel, und ich begann zu frieren. Möglich wurde diese Erfahrung von mir selbst abzusehen und mich mit dem Bewusstsein der Gams zu verbinden, durch eine einfache Frage, die ich in meinem Bewusstsein kreisen liess, während ich die Gams mit allen Sinnen intensiv betrachtete. Die Frage, die mich in diesen Zustand der Einheit eintauchen liess, lautet: „Wie fühlt es sich an, die Gams zu sein? Mehrere Male fragte ich mich, während ich sie unter dem Baum betrachtete: „Wir fühlt es sich an, diese Gams zu sein.“ Diese Form der Frage, bzw. Kontemplation führt in das direkte Erleben dessen, was wir mit all unseren Sinnen betrachten. Wichtig dabei ist, nur diese eine Frage „Wie fühlt es sich an, das …. zu sein?“ im Bewusstsein zu halten, gleichzeitig das Denken auszuschalten und sich vollständig auf das Fühlen einzulassen. Nach 15-20 Minuten kann man diese direkte Erfahrung machen, von der Dogen spricht: „Wenn wir von uns absehen, den Verstand in die Stille bringen, die Luft für einen Moment anhalten, werden wir selbstlos und eins mit dem, was wir betrachten. In diesem Gefühl der Einheit erfährt man, dass alles beseelt ist.

Hier wird es möglich mit Tieren, Pflanzen oder ganz gewöhnlichen Objekten zu kommunizieren. Sie offenbaren uns dann Gefühle tiefer Verbundenheit mit dem Sein, was eine analytische Betrachtung, die auf Trennung basiert, nie kann. Mit dieser Erfahrung der Einheit ist es unmöglich einem anderen Wesen oder der Natur Gewalt anzutun. Wenn die Erfahrung der Verbundenheit oft genug erlebt wird und sich im eigenen Wesen verankert, handelt man automatisch im Sinne des Ganzen. Wir sind global betrachtet noch weit von einem ganzheitlich-verbundenen Bewusstsein entfernt, aber die aktuelle Krise hat die Chance uns in diese grundlegende Verbundenheit aller Dinge zu katapultieren, die für alle indigenen Völker und authentischen, spirituellen Traditionen selbstverständlich ist.

Meine Empfehlung: Immer mal wieder „die Luft anhalten“, von sich absehen und sich fragen: “Wir fühlt es sich an, das, was immer ich gerade betrachte, zu sein.“ Können wir diese Haltung auf unsere Mitmenschen und die Natur übertragen, erschaffen wir eine neue Wirklichkeit, die nicht mehr auf Konkurrenz und Kampf basiert, sondern auf der Erfahrung von Einheit und Verbundenheit.

Mit verbundenen Grüssen
Ralph Wilms

Juli 2020

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