Neurologie: Der unbewusste Wille

Neurologie – Hirnforschung: Der unbewusste Wille

John-Dylan Haynes arbeitet im Berliner Bernstein Zentrum für Computational Neuroscience. Der 37-jährige deutsch-britische Professor hat im Fachblatt Nature Neuroscience eine Studie veröffentlicht, die vermutlich die Debatte um den freien Willen mächtig anheizen wird. Anhand der Aktivität zweier Hirnregionen kann Haynes voraussagen, ob Versuchspersonen einen Knopf mit der linken oder rechten Hand drücken werden. Und diese Aktivität beginnt, zehn Sekunden bevor die Probanden sich bewusst entscheiden! Eine Kaskade von unbewussten Prozessen fängt an, eine Entscheidung vorzubereiten, lange bevor diese ins Bewusstsein dringt, sagt Haynes. Unsere Gedankentätigkeit sei mit einem Eisberg vergleichbar. Was uns bewusst wird, ist nur dessen Spitze. Neunzig Prozent liegen unter Wasser – das sind die unbewussten Prozesse in unserem Gehirn.“ (Zitat: U. Schnabel – Die Zeit 17.4.2008)

Die Forschungen von Haynes und anderen zeigen deutlich, dass das Gehirn vorplant und uns erst anschliessend der Gedanke oder die Entscheidung des Gehirns bewusst wird. Das passiert nicht nur Millisekunden vorher, wie Benjamin Libet einst aufzeigte, sondern wie Haynes nachweist, bereits 7-10 Sekunden vorher. Mit anderen Worten, konditioniertes Bewusstsein lässt uns die Wirklichkeit nicht so erleben wie sie wirklich ist, sondern wir erleben sie immer durch einen Filter des Gehirns. Interessanterweise verschleiert das Gehirn scheinbar, dass es vordenkt und suggeriert stattdessen, dass wir Urheber des Gedankens sind. Dadurch erleben wir Gedanken von uns generierte und identifizieren uns natürlich mit ihnen. Je ausgeprägter diese Identifikation mit den Gedanken, umso fremdbestimmter ist unser Handeln, und umso unbewusster sind wir Spielball alter Konditionierungen.

Mit dem Praktizieren mentaler Techniken wird die Aufmerksamkeit vom Denkprozess weggeleitet zum Atem, Körpergefühl, Bildern und dadurch eine Distanz zum Denken hergestellt. Diese Distanz ermöglicht einerseits die Inhalte der vom Gehirn automatisch produzierten Gedanken einer genaueren Prüfung zu unterziehen und z.B. die Muster darin zu erkennen – underlying Beliefs, Haltungen, Einstellungen, Glaubenssätze, etc… – und damit den persönlichen Entscheidungsspielraum zu vergrössern. Gedanken können nun nicht mehr einfach zu Entscheidungen oder Handlungen führen. Ich kann innehalten, den Gedanken als Produkt des Gehirns erkennen und habe damit die Möglichkeit aus einer tieferen Schicht des Erkennens zu schöpfen. Diese tiefere Ebene des Erkennens nennen wir Intuition, Inspiration, Kontemplation oder schlicht Weisheit.

Der unbewusste Wille ist also der Automatismus des Gehirn. Freier oder bewusster Wille beginnt dort, wo wir diesen Mechanismus erkennen und Kontrolle darüber haben, ob wir diesem – nunmehr bewussten – Impuls des Gehirn nachgehen wollen oder nicht. Die Neurologen bezeichnen diese Fähigkeit als „hemmen“ und lokalisieren es im präfrontalen Kortex. Scheinbar ist diese Hemmfunktion schnell erschöpft und muss immer wieder erneut aufgeladen werden. Für die tägliche Praxis bedeutet dies, dass wir uns nach jeder Stunden eine gewisse Pause leisten sollten, um den präfontalen Kortex, bzw. die Hemmfunktion wieder aufzuladen, wie einen Akku.

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