Inkubation – der westliche Weg ins Sein

Wir gehören in den Westen. Hier sind wir geboren. Auf dem Boden der Logik haben wir eine machtvolle Kultur erschaffen, die längst ihren Ursprung vergessen hat. Um diesen Ursprung geht es. Wo kommen wir her? Was sind unsere Quellen? Wie ist all das entstanden und wie können wir diese Quellen nutzen, um eine weisere Zivilisation zu schaffen?

Viele haben sich in den letzten Jahrzehnten von der oberflächlichen Konsumkultur des Westens abgewendet und sich dem Osten zugewendet, um eine Form spiritueller Nahrung zu finden, die uns im Westen abhanden gekommen ist. Sie suchten, wie ich auch, im Buddhismus, im Yoga, den heiligen Schriften und Riten der Hindus, Sufis oder in den schamanischen Ritualen der Ureinwohner Amerikas. Die meisten Menschen gehen von der irrtümlichen Annahme aus, das Christentum sei die Quelle unserer Kultur. Weit gefehlt. Das Christentum hat weder die Logik erfunden, noch die Technik und war nie ein großer Verfechter der Vernunft. Im Gegenteil, ihre Päpste brauchten 500 Jahren, um anzuerkennen, dass Galilei Recht hatte und die Erde keine Scheibe ist. Der Schlüssel zur Essenz, zur Quelle unserer Kultur, liegt weit zurück. Genauer gesagt 2.500 Jahre – im heutigen Süditalien. Hier in Velia, lebte ein Mann, der wie kein anderer unser Denken beeinflusst hat, Parmenides. Er war Heiler, Philosoph und Meister der Träume.

Als Priester des Apollo vermochte er noch weit mehr; er konnte mit den Göttern sprechen. Auf einer seiner inneren Reisen hatte er eine folgenreiche Begegnung mit der Göttin, die in beiden Welten zuhause ist: der Welt der Dunkelheit und der Welt des Lichtes. Ihr Name ist Persephone, die Göttin, die alles durchdringt, die tiefsten Ebenen des Seins; sie ist die, die alles umfasst, das Werden und das Sterben, das Leben und den Tod. Sie offenbarte ihm die Gesetze der Logik, die später zu den Grundlagen unserer Kultur werden sollten. Aus ihnen entsteht nicht nur Physik, Chemie und Biologie, sondern die gesamte, auf der Logik aufbauende, westliche Zivilisation. Deshalb nennt Platon ihn, Parmenides, den Vater.

PeterKingsley_241x287Zu verdanken habe ich diese Erkenntnis und die Praxis der Inkubation meinem Freund Professor Peter Kingsley. Er ist der, der diesen spirituellen Ursprung unserer Kultur wiederentdeckte und vom Schutt der Vergangenheit befreite. Parmenides, der mit den Göttern sprechen konnte, wusste, dass Heilung von einer anderen Ebene des Seins kommen muss, und er wusste vor allem, wie man Menschen in diese tiefste, heilsame und erkenntnisreiche Ebene des Seins führte: durch Inkubation. Inkubation ist der westlich-spirituelle Weg Kontakt zu den eigenen höheren Bewusstseinsebenen herzustellen. Inkubation bedeutet das Eintauchen in einen Zustand der tiefsten Stille. Hier entsteht Heilung und Offenbarung, Einsicht und Erlösung, Inspiration und Kreativität. Inkubation eröffnet den Zugang ins „Bewusstseinsfeld“ und die damit verbundene Möglichkeit, neue Potenziale zu entfalten. Den Zugang zu diesem Feld haben sich Schamanen, Priester und Künstler über die Jahrtausende immer zunutze gemacht. Jetzt ist die Zeit gekommen, dass jeder Mensch sich dieser tiefsten Verbindung mit seiner Seele bewusst wird.

Der einfachste und natürlichste Weg, der uns gleichzeitig wieder mit der Quelle unseres Seins und unserer Kultur verbindet, ist die Technik der Inkubation. Unser Weg zu diesem göttlichen Potenzial über die Inkubation erfolgt über die Sinne. Wir sind eine sinnliche Kultur. Fast alle östlichen spirituellen Traditionen inklusive des Christentums lehnen die Sinne ab. Askese, Verzicht, Sünde oder Enthaltsamkeit sind typische Charakteristika für eine Spiritualität, die nicht wirklich mit unseren Wurzeln übereinstimmt. Wir im Westen lieben die Sinne, aber verlieren uns in ihnen. Wir tun alles, um Sehen, Hören, Riechen, Schmecken oder Empfinden anzureizen und zu befriedigen. Vom Gourmettempel, in dem wir das Essen zelebrieren, über die Film- und Musikindustrie, die uns akustisch und visuell anregt, bis zur hemmungslosen Ausbeutung des Körpers durch Pornographie – wir haben es erfunden.

Aber dieser Weg führt zu Verrohung und schlussendlich zu Sinnlosigkeit. Die Sinne stumpfen mit der Zeit ab. Die Dosis muss immer mehr gesteigert werden, um immer wieder den gleichen Effekt zu haben. Wer dies durchschaut, begibt sich auf die Suche nach der Tiefendimension des Seins. Er weiß intuitiv, dass diese Tiefe nicht im Exzess zu finden ist, sondern an einem anderen Ort: der inneren Dimension des Seins. Inkubation bedeutet, mit den Sinnen nach innen zu gehen, den Sinnen nach innen zu folgen und den Ursprung ihres Entstehens zu entdecken. Was man durch die Inkubation dort findet, ist die Göttlichkeit der Sinne. Ein Wort der Moderne dafür ist Bewusst-Sein. Dann macht man die Erfahrung, dass es nicht die Augen sind, die sehen, sondern dass das Bewusstsein hinter den Augen sieht; dass es nicht die Ohren sind, die hören, sondern dass es das Bewusstsein ist, das sich der Ohren bedient. Wer in der Inkubation den Sinnen nach innen folgt, dem eröffnet sich eine neue Realität.

Blühende Camelie schmalDiese neue Realität schärft die Sinne und bringt uns in die Tiefendimension des Jetzt zurück. Hier entsteht eine neue Erlebnistiefe, die die Würdigung jedes Augenblicks des Lebens auf natürliche Weise entstehen lässt. Hier verstummt das Gedankenchaos, das so viele Menschen in sich tragen. Die Inkubation führt nicht nur zu einem tiefen Ankommen im Sein, sie eröffnet uns auch die Verbindung zur göttlichen Natur unseres Selbst. Es liegt nahe, Inkubation mit Meditation zu vergleichen. Wenn man die Meditationstechniken fernöstlicher Traditionen  kennt, sieht man schnell die Parallelen. Auch im Osten geht es um Stille, Achtsamkeit oder das Eintauchen ins Sein, aber eben nicht über die Sinne, sondern eher über deren Vermeidung. Dadurch entsteht schnell ein Kampf. Der Kampf um die Erleuchtung oder das Erwachen. Dennoch können wir dem Osten und seinen Lehrern dankbar sein, dass sie uns ihre vielfältigen Techniken bereitwillig zur Verfügung gestellt haben. Aber es ist Zeit, dass wir uns auf unsere eigenen Wurzeln be-sinnen, zurückkehren zu unserer ureigenen Quelle. Hier finden wir nicht nur den natürlichen Zugang zum Göttlichen, sondern vor allem die Signatur des Göttlichen, die das Potenzial hat, uns zu transformieren.

Dieser Beitrag ist auch erschienen in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Newsage 4/2014

© Ralph Wilms Transpersonale Akademie

 

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