Vom Fluss lernen

Der Rhein in DiessenhofenSeit einigen Monaten nun lebe ich am Fluss (Rhein) und lerne von ihm. Seine Energie strahlt Ruhe aus und Kraft. Wenn ich ihm auf meinen Spaziergängen in der Stille begegne, spüre ich seine vitalisierende Energie. Ich liebe es, in ihm zu baden und mich von seiner Strömung treiben zu lassen. Alte Fluss-Geschichten,  die mir im Laufe des Lebens begegnet sind, kommen in mein Bewusstsein zurück. Eine dieser Geschichten ist die von Siddhartha, dem Roman von Hermann Hesse. Der Fluss taucht bereits am Anfang des Romans auf, als Siddhartha, der junge Mönch, den Fluss überqueren muss. Der Fährmann Vasudeva erzählt ihm während der kurzen Überfahrt vom Fluss: „…ein sehr schöner Fluss, ich liebe ihn über alles. Oft habe ich ihm zugehört, oft in seine Augen gesehen, und immer habe ich von ihm gelernt. Man kann von einem Fluss lernen,“  Er deutet zu Beginn des Romans an, dass jeder irgendwann in seinem Leben zum Fluss zurückkommt: „…auch das habe ich vom Fluss gelernt, alles kommt wieder! Auch du, Samana (junger Mönch), wirst wiederkommen.“

 

Vasudeva hat vom Fluss gelernt in die Zukunft zu schauen, weil der Fluss die Zeit aufhebt. Auch mir geht es so, dass ich die Zeit vergesse, wenn ich am Fluss sitze. Der Fluss macht es leicht loszulassen, da ich ihm alles übergeben kann. Hesse beschreibt, wie Siddhartha erkennt, dass es keine Zeit gibt, „…dass der Fluss überall zugleich ist, am Ursprung und an der Mündung, am Wasserfall, an der Fähre, an der Stromschnelle, im Meer, im Gebirge, überall zugleich, und dass es für ihn nur Gegenwart gibt, nicht den Schatten der Vergangenheit, nicht den Schatten der Zukunft.“ Buddha hatte einst den Grund des Leidens ergründet und erkannt, dass Leiden bedeutet, in irgendetwas festzustecken. Damit meinte er vor allem das Feststecken in falschen Vorstellungen. Das Leiden endet sobald wir wieder in den Fluss des Lebens einsteigen und die alten Fixierungen loslassen können. In Siddhartha beschreibt Hesse auf seine Weise den Weg des Buddha, dem es am Ende seines Lebens durch den Fluss gelingt, sein altes Ich, sein Streben und seine Illusionen vollständig loszulassen. Im Roman kehrt Siddhartha nach vielen Jahren zum Fluss zurück. Er ist seines Lebens überdrüssig geworden. Der Fluss gibt ihm ein neues Leben, weil er bereit ist, sein „altes Ich“ aufzugeben. „Ihm schien, es habe der Fluss ihm etwas Besonderes zu sagen, etwas, das er noch nicht wisse, das noch auf ihn warte. In diesem Fluss hatte sich Siddhartha ertränken wollen, in ihm war der alte, müde, verzweifelte Siddhartha heute ertrunken. Der neue Siddhartha aber fühlte eine tiefe Liebe zu diesem strömenden Wasser und beschloss bei sich, es nicht so bald wieder zu verlassen.“  Er entdeckt, was es heißt tief in der Gegenwart anzukommen und sich auf das, was ist, vollständig einzulassen. Sein Suchen endet hier am Fluss: „Wenn jemand sucht … dann geschieht es leicht, dass sein Auge nur noch das Ding sieht, das er sucht, dass er nichts zu finden, nichts in sich einzulassen vermag, weil er nur immer an das Gesuchte denkt, weil er vom Ziel besessen ist.“

 

Mehr als 60 Jahre nach Hesses Roman beginnt die Psychologie sich mit der Frage zu beschäftigen, was Glück ist. Mihaly Csikszentmihaly, Professor für Psychologie an der Universität von Chicago, veröffentlicht seine Forschungsergebnisse in dem Buch „Flow – das Geheimnis des Glücks“. Er benutzt als erster Psychologe die Metapher des Fliessens, um zum Ausdruck zu bringen, dass man Glück nicht kaufen kann, sondern das es sich einstellt, wenn man „im Fluss“ ist und sich selbst vergisst. Er beschreibt, wenn auch in einer anderen Sprache wie Hesse, dass im Flow-Zustand die Zeit aufgehoben ist. Im Fluss zu sein bedeutet tief in den Augenblick eintauchen zu können.  Die Transpersonale Psychologie beginnt fast zur gleichen Zeit außergewöhnliche Bewusstseinszustände, zu denen auch der zeitlose Zustand des Flow gehört, zu analysieren.  Die neurologische Forschung beginnt Ende der 90iger Jahre die zeitlosen Zustände meditativer Erfahrungen genauer zu untersuchen. Eine der wichtigsten Erkenntnisse dieser noch jungen Forschung: Wir haben ein im Gehirn verstecktes zweites Betriebssystem, welches über eine größere Verarbeitungskapazität verfügt und uns Zugang zu innerer Zufriedenheit und Gelassenheit gibt. Es wird aktiviert, wenn wir tief in den Fluss des Augenblicks einsteigen, unseren rastlosen Verstand hinter uns lassen können. Zahlreiche Studien über den Achtsamkeitsmodus, eine Funktion dieses zweiten Betriebssystems, machen deutlich, dass es nicht nur zufriedener macht, sondern uns vor allem ermöglicht besser und entspannter mit den wachsenden Belastungen unseres Alltags umzugehen.

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